Der Kampf um sauberes Wasser
In Kambodscha sind die Folgen der jahrelangen Bürgerkriege bis heute spürbar. Noch immer hat dort jede dritte Person keinen Zugang zu sauberem Wasser. Ein Besuch mit dem Schweizerischen Roten Kreuz an Orte, an die sonst niemand hinkommt.
Ihr Lächeln hat die 65-jährige Kambodschanerin Oum Rous nicht verloren. Sie sitzt unter einem rosaroten, hoch gehängten Moskitonetz auf ihrem Bett ohne Matratze, in einer nur etwa neun Quadratmeter grossen Hütte aus Wellblech, Holzlatten und Zuckerpalmenblättern. Ihre Sorgen und Ängste sieht man der zierlichen Frau mit den kurzen Haaren und den schiefen Zähnen nicht an. Sie ist eine der Ärmsten im Dorf Phasa Kumrussey, rund 30 Kilometer südlich von der Hauptstadt Phnom Penh im Norden der Provinz Takeo.
Dennoch strahlt Oum Rous fast einen ansteckenden Optimismus aus. «Ich bin froh, dass meine Enkelin einen Job in einer Textilfabrik hat und 134 US-Dollar im Monat verdient», sagt die Witwe. Ihr Mann ist 1973 während des Bürgerkriegs gefallen, und ihre unter Depression leidende Tochter, die mit einem Alkoholiker verheiratet war, starb kurz nach der Geburt des ersten Kindes. Deshalb lebt Oum Rous seither mit ihrer inzwischen 20-jährigen Enkelin in dem winzigen Einzimmerschlaf- und Wohnraum.
Dort haben die beiden ihre wenigen Habseligkeiten verstaut – von Kleidern über Lebensmittel bis hin zu Geschirr und Kochtöpfen. Der einzige Luxus ist ein Ventilator und ein Secondhandfernseher, den Oum Rous ihrem Neffen für 40 Dollar abgekauft hat. Seit ein paar Monaten hat sie draussen an ihrer Kochstelle einen Wasserbehälter mit sauberem Trinkwasser. Und rund 20 Meter hinter ihrer Hütte steht nun auch ein Toilettenhäuschen. Ein solides Plumpsklo mit stabilen Wänden aus Zementblöcken und einem Wellblechdach.
Spuren des Terrorregimes
Kambodscha ist eines der ärmsten Länder der Welt mit einer tragischen Vergangenheit. Während des Vietnamkriegs wurde es bombardiert, um Rückzugsgebiete der Vietcong zu zerstören. Danach verbreiteten die Roten Khmer unter Pol Pot Angst und Schrecken im Land. Genau vor 40 Jahren marschierte seine Armee in Phnom Penh ein. Dies hatte zur Folge, dass knapp 3 Millionen Kambodschaner, rund ein Drittel der damaligen Bevölkerung, ermordet oder vertrieben wurde. Die Roten Khmer brachten fast die gesamte geistige Elite um. Als das Schreckensregime 1978 endete, verfügte Kambodscha nur noch über etwa 5 bis 20 ausgebildete Mediziner. Erst 1993, mit den ersten freien Wahlen, kehrte ein Stück Normalität zurück.
«Mittlerweile haben wir bei uns im Spital 40 Ärzte und 3 Apotheker», freut sich Khiev Samras, Direktor des Provinzkrankenhauses Takeo, das für rund 1 Million Menschen verantwortlich ist. Es wurde unter anderem mithilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) zu einem funktionierenden Betrieb aufgebaut und gilt nun als Vorzeigebeispiel. Jeden Tag kommen hier etwa fünf Kinder zur Welt. Eine Mutter liegt mit ihrem Neugeborenen in einem schlichten Bettgestell aus Metall, das mit Holzlatten und einer Strohmatte ausgelegt ist. Und eine stolze Grossmutter gibt ihrem erst wenige Tage alten Enkelkind, das sie auf ein pinkfarbenes Kissen auf dem Boden gelegt hat, ein Fläschchen zu trinken.
Das Spital ist voll mit Patienten und deren Familien, die sie rund um die Uhr versorgen und ihnen das Essen mitbringen. Mittlerweile bietet es sogar das ganze Spektrum medizinischer Behandlungen an — von chirurgischen Eingriffen bis hin zu modernen bildgebenden Verfahren wie der Computertomografie oder Blutanalysen im eigenen Labor. Um die Behandlungskosten transparent zu machen und die Korruption zu bekämpfen, sind die Preise gleich am Eingang des Spitals für jedermann ersichtlich auf eine Tafel geschrieben.
«Die Allerärmsten müssen nichts zahlen, sondern werden durch einen Gesundheitsfonds finanziert», sagt Khiev Samras. Früher gingen viele Kambodschaner zu traditionellen Heilern oder wurden gar nicht behandelt, weil sie es sich nicht leisten konnten. Dennoch liegt auch noch heute im Gesundheitssektor viel im Argen. Bestimmte Krankheiten liessen sich allein durch Prävention und Aufklärung vermeiden. Denn nach wie vor leiden viele Kambodschaner etwa an schwerwiegenden und zum Teil sogar tödlich verlaufenden Durchfallerkrankungen. Der Grund: Jede dritte Person hat keinen Zugang zu sauberem Wasser. Und nur jede sechste benutzt eine Toilette.
Zwei Ärzte pro 10'000 Einwohner
Obwohl in Kambodscha dank dem stetigen Wirtschaftswachstum die Armutsrate von 47,8 Prozent im Jahr 2007 auf 19,8 Prozent im Jahr 2012 gesunken ist, sind die Verhältnisse weiterhin vielerorts prekär. Im Jahr 2010 hatten laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 46 Prozent der Bevölkerung nur 1.25 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Auch die medizinische Versorgung des Landes ist zumeist dürftig. Im Jahr 2008 kamen gemäss der WHO-Statistik auf 10'000 Einwohner nur zwei Ärzte. Zum Vergleich: In der Schweiz waren es im Jahr 2013 rund 22 Ärzte.
Besonders deutlich zeigen sich die fehlenden Behandlungsmöglichkeiten in Kambodscha an der hohen Sterblichkeit aufgrund von Durchfallerkrankungen. Im Jahr 2012 machten sie 8 Prozent der Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren aus. Schuld daran sind insbesondere die schlechte Hygiene und kontaminiertes Wasser, weswegen sich Krankheitserreger gut verbreiten können. Um die Situation zu verbessern, setzt sich das SRK in der Provinz Takeo für den Bau einfacher Toiletten ein – Latrinen wie diejenige von Oum Rous. Bisher sind es bereits 641. Zudem sollen die Menschen in den Dörfern einen Brunnen in ihrer Nähe haben und die Wasserstellen auch gewartet werden.
Eine Gesellschaft im Umbruch
«Das ganze Dorf profitiert von der Instandsetzung des Wassersystems», erklärt Gabriela Zipper, Länderverantwortliche des SRK. «Die Familien leben hier relativ zurückgezogen, weil sie in der Vergangenheit sehr viel Leid ertragen mussten. Viele von ihnen sind vertrieben worden oder haben Familienmitglieder im Krieg verloren.» Deshalb gibt es auf dem Land generell wenig alte Menschen und viele Junge. Letztere arbeiten im Gegensatz zu früher weniger auf den Reisfeldern, sondern wandern oft ab. Zumindest tagsüber. Denn am Stadtrand von Phnom Penh schiessen Textilfabriken geradezu wie Pilze aus dem Boden, weil man dort im Vergleich zu China billiger produzieren kann.
Dieser Boom führt dazu, dass vor allem junge Männer und Frauen aus den Dörfern am Morgen auf der Ladefläche von Lastwagen dicht an dicht zu den Fabriken gekarrt werden — und am Abend wieder zurück. «Oft müssen deshalb die Grossmütter sich um die Kinder kümmern», sagt Zipper. Die Gesellschaft in Kambodscha sei im Umbruch. Mit dem Nachteil, dass sich die soziale Schere weit öffne. Die Unterschiede sind bereits jetzt nicht zu übersehen. So hat das eine Kind in Oum Rous’ Dorf schon ein iPhone, während das andere nicht einmal Schuhe trägt, geschweige denn eine Latrine zu Hause hat.
Doch bisher sind Statussymbole wie Smartphones oder Autos in dieser Gegend erst vereinzelt zu beobachten. Vielmehr scheint die Zeit hier stillzustehen. Brachliegende Reisfelder, so weit das Auge reicht. Hin und wieder ragen ein paar hoch gewachsene Zuckerpalmen aus der Landschaft heraus. Und weiterhin führen Sandpisten mit tiefen Schlaglöchern statt asphaltierter Strassen zu den Dörfern, wo Hühner, Rinder und Schweine meist mit den Menschen unter einem Dach leben.
Katastrophen treffen die ganz Armen
Die schlichten Bauten stehen auf Stelzen, um das wenige Hab und Gut der Menschen vor Überschwemmungen zu schützen. Das zentrale Tiefland steht wegen des Monsuns traditionell oft unter Wasser. Im vergangenen Jahr regnete es in Kambodscha jedoch sintflutartig, nach Angaben von Radio Free Asia war die Hälfte der insgesamt 24 Provinzen des Landes zwei Monate lang überschwemmt. Mehr als 100'000 Familien und 60'000 Häuser waren von der Katastrophe betroffen, 80'000 Reisfelder zerstört, 45 Menschen starben. Dagegen herrschte in der benachbarten Provinz Takeo Dürre, die ebenfalls grosse Ernteverluste verursachte.
Kambodscha gehört zu den Ländern, die aufgrund des Klimawandels mit mehr Wetterextremen rechnen müssen. Nicht nur der Zeitpunkt, auch die Dauer und die Intensität des Monsuns haben sich in der letzten Zeit verändert. «Im Jahr 2013 hatten wir in 17 Provinzen starke Überschwemmungen, die mehr als 200 Menschen getötet haben», sagt die Generalsekretärin des kambodschanischen Roten Kreuzes, Pum Chantinie. 2011 hätten die Sturzfluten sogar 250 Menschenleben gefordert.
Solche Katastrophen treffen vor allem die ganz Armen. Denn in dem südostasiatischen Staat sind viele der Bauern Selbstversorger. Fällt die Ernte aus, sind sie auf fremde Hilfe angewiesen. «Wir essen morgens, mittags und abends Reis», sagt die 57-jährige Or Koeurn aus dem Dorf Tropaing Lean. Sie lebt mit ihrer Adoptivtochter und deren eineinhalbjährigem Kind ebenfalls in einer aus Holzbrettern, Blättern und Wellblech erstellten Hütte.
Vor mehr als 30 Jahren trennte Or Koeurn sich von ihrem Mann, weil er eine andere hatte. Seither schlägt sie sich irgendwie durchs Leben. Sanitäre Anlagen wie eine Toilette hat sie nicht, sondern sie muss weiterhin irgendwohin, wo es niemand sieht, um ohne viel Aufsehen ein Loch in den Boden zu graben. Für die meisten in ihrem Dorf ist dies Routine. Sie kennen es nicht anders. Erst allmählich stehen hinter einigen Häusern Latrinen. Ein langer Prozess, der ein Umdenken erfordert.
Seltener krank
Or Koeurn kämpft sich mit wenig durch den Alltag. Sie besitzt aber zumindest ein kleines Reisfeld, das zehn Säcke à 50 Kilogramm hergibt. Wenn ihre Adoptivtochter im Restaurant als Tellerwäscherin arbeitet, passt sie auf ihre Enkelin auf. Trotz der schier unerträglichen Mittagshitze formt sie nun in einer Kochnische hinter der Hütte mit Tochter und Enkelin aus einer Reismasse Bällchen. Eines nach dem andern. Einen Tisch oder einen Stuhl hat sie nicht – alle müssen sie in der Hocke arbeiten. Anschliessend wäscht sie sich die Hände mit Seife. Seit sie dies immer wieder regelmässig mache, sei sie weniger krank, sagt Or Koeurn.
Sie hoffe, dass sie mit der Unterstützung des SRK bald eine eigene Latrine haben könne. Zuvor muss sie aber noch an mehreren Informationsveranstaltungen über Hygiene sowie Gesundheitsvorsorge teilnehmen. Auch für Wände und Dach des Toilettenhäuschens muss sie selbst aufkommen. Denn nur durch einen gewissen Grad an Eigeninitiative sei das Projekt nachhaltig und die Latrine werde nicht zweckentfremdet und später als Abstellraum genutzt, erklärt Zipper. Bisher besitzen in diesem Dorf von insgesamt 189 Familien 54 eine Latrine.
Auch die 20-jährige Enkelin von Oum Rous aus dem anderen Dorf in Takeo hat Wünsche. Sie hätte gern ein Haus, sagt sie lächelnd. Und am Eingang ihrer einfach zusammengebauten Hütte prangt ein farbiges Bild aus einer noch ganz anderen Traumwelt eines Teenagers; aus der des Films und Glamours – eine herausgerissene Seite aus einem Kalender. Doch das darauf strahlende Schauspielerpaar hat inzwischen schon etwas von seinem ursprünglichen Glanz verloren – durch die extremen Umweltbedingungen in dieser abgelegenen Gegend.(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 26.05.2015, 09:16 Uhr)
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